MEINUNG

Elektronische Gesundheitskarte: „Das Großprojekt muss gestoppt werden“

Christian Beneker

Interessenkonflikte

16. August 2017

Dr. Silke Lüder

Steht die elektronische Gesundheitskarte eGK vor dem Aus? Entsprechende Meldungen wurden vom Bundesgesundheitsministerium (BGM) dementiert. Jedoch arbeiten verschiedene Krankenkassen derweil schon an eigenen Lösungen. Und in der Ärzteschaft ist die elektronische Karte umstritten. Medscape befragte dazu Dr. Silke Lüder. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin in Hamburg ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien Ärzteschaft e.V. und Sprecherin der Aktion „Stoppt-die-e-Card“.

Medscape: Die Süddeutsche Zeitung meldete kürzlich, die Bundesregierung wolle die eGK nach der Wahl kippen. Halten Sie das für realistisch?

Dr. Lüder: Es wäre die vernünftigste Entwicklung, das Projekt zu stoppen. Aber es ist unrealistisch, daran zu glauben. Vor allem Praxen und Kliniken sollen über das Stammdaten-Management an die zentrale Infrastruktur angeschlossen werden. Die Kassen wollen das unbedingt und haben ihre Geschäftsstellen entsprechend schon deutlich reduziert. Und die Industrie, allen voran die CompuGroup Medical macht Druck. Man will jetzt endlich Gewinne machen.

Medscape: Sie und die Organisation ‚Stoppt die e-Card‘ waren von Anfang an gegen das Projekt. Ist der Widerstand nun sinnlos geworden?

Dr. Lüder: Nein. Denn das Stammdaten-Management ist ja nur ein Teil des Projektes. Ich bin sicher, dass die geplanten Anwendungen – wie die Videosprechstunde, die elektronische Patientenakte, das elektronische Rezept oder der elektronische Medikationsplan – in der geplanten Form nicht kommen werden.

Medscape: Warum nicht?

Dr. Lüder: Den staatlich verordneten Medikationsplan, den es in Papierform schon gibt, habe ich im Praxisalltag noch nie gesehen. Niemand von uns Praxisärzten hat je einen Plan mit dem entsprechenden CR-Code aus einer Klinik bekommen. Der Plan ist ein Phantom und als elektronische Anwendung eine Totgeburt. Er wird in den Kliniken nicht realisiert, weil dort die Software und die Technik fehlen.

Genauso die Videosprechstunde, für die wir nur 4,70 Euro erhalten sollen. Dafür kann niemand eine Videosprechstunde machen. Oder die elektronische Patientenakte: Es gibt sie immer noch nicht, während die AOK und die TK mit eigenen Lösungen vorpreschen. Und das elektronische Rezept ist wegen Unpraktikabilität schon lange gestorben.

Medscape: Befürworter der Karte sagen, wenn wir die Infrastruktur nicht aufbauen, dann machen es Google und Co ...

Dr. Lüder: Richtig ist, dass die Realität schon längst über die großen staatlichen Projekte hinweg gegangen ist. Wir erleben in den Hausarztpraxen, dass die Patienten Fotos der Wunden ihrer bettlägerigen Mutter auf ihrem Smartphone in die Praxis mitbringen, Arztberichte abfotografieren, Medikamente fotografieren, weil sie sich die Namen nicht merken konnten, oder Berichte auf dem Smartphone zu uns bringen. Diese Nutzung kann man nicht verbieten. Sie ist Realität. Ich bin wirklich nicht begeistert davon, aber man kann es nicht verhindern. Auf dem iPhone 6 ist ein Notfalldatensatz automatisch implementiert. Und die Patienten werden auch ihre Medikation auf dem Smartphone festhalten, da bin ich mir sicher.

Medscape: Wenn es den Patienten sowieso egal ist, ob ihre Daten elektronisch auf dem potenziell unsicheren Smartphone transportiert und gespeichert werden, warum argumentieren Sie als eGK-Gegnerin immer noch mit der Datensicherheit?

Dr. Lüder: Weil es den Patienten nicht egal ist, ob ihre Daten zentral gespeichert werden oder nicht. Sie wollen nicht von den Kassen überwacht werden. Die Mehrheit will nicht, dass ihre Arztbriefe bei den Kassen liegen. Heute kommen die Patienten mit den Entlassungsunterlagen des Krankenhauses in der Hand zu uns, wir scannen sie ein und geben ihnen die Unterlagen zurück. Sie liegen dann in der Hand des Patienten und in der des Arztes – nicht in der Hand der Kassen, nicht in der Hand des Staates.

Medscape: In der Telematik-Infrastruktur muss der Patient sie nicht nutzen, sondern muss jedem Schritt der Nutzung zustimmen.

Dr. Lüder: Das stimmt. Die wichtigen Anwendungen sind heute noch für den Versicherten freiwillig. Für die Ärzte besteht allerdings keinerlei Freiwilligkeit. Das ist zum Beispiel eine Unverschämtheit. Augenblicklich ist im Paragraf 291 SGBV noch geregelt, dass die Patienten zustimmen müssen. Diejenigen Stimmen aus Politik und Kassen werden aber immer lauter, die davon sprechen, dass die Freiwilligkeit zugunsten von Pflichtsolidarität und Kostenersparnis gekippt werden müsse. Und solche Festlegungen können mit einem Federstrich vom Bundestag geändert werden.

Medscape: Der Streit um die eGK läuft jetzt so lange wie ihre Entwicklung – mehr als 10 Jahre. Sind die Ärzte der Debatten nicht langsam müde?

Dr. Lüder: Zum Teil ja, das muss man sagen. Das geht jetzt seit 11 Jahren. Und es wird jetzt ganz massiver Druck mit staatlichen Sanktionsdrohungen ausgeübt. Aber die große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen sieht den Zwangsanschluss der Praxen über das Stammdaten-Management an die Krankenkassen nach wie vor sehr, sehr kritisch. Und an der grundsätzlichen Ablehnung des staatlichen Unsinns-Projektes hat sich gar nichts geändert.

Medscape: 10 Jahre Entwicklungszeit, 1,7 Milliarden Euro Kosten – wie sollte sich die Telematik-Infrastruktur weiterentwickeln? Was fordern Sie?

Dr. Lüder: Das Großprojekt muss gestoppt werden. Denn es ist eine sehr große Infrastruktur und entsprechend anfällig gegenüber Sicherheitsangriffen und technischen Störungen. Die elektronische Patientenakte mit den Gesundheitsdaten von 80 Millionen Bürgern zentral speichern zu wollen, ist ein Unding. Das muss ein Ende haben.

Die elektronische Kommunikation im Gesundheitswesen muss ganz neu aufgesetzt werden, und zwar unter Beteiligung von Ärzten und Patienten. Sie darf nicht in der Hand des Staates und nicht in der Hand der Kassen liegen. Die Datenkommunikation im Gesundheitswesen sollte ganz normal über das Internet laufen – und zwar dezentral und in Form verschlüsselter Punkt-zu-Punkt-Kommunikation. Die gibt es schon lange, etwa bei der Verschlüsselungssoftware PGP – Pretty Good Privacy.

Medscape: Aber das Gegenteil geschieht: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat Anfang des Jahres den Rollout der Telematik-Infrastruktur verkündet.

Dr. Lüder: Das war ziemlicher Unsinn. Denn es gibt bis heute keine Geräte für das Stammdaten-Management, keinen Konnektor und kein einziges Kartenlesegerät, das für den Praxisbetrieb vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie genehmigt wäre. Trotzdem lässt der einzige Hersteller jetzt schon Verträge von den Praxen unterschreiben. Das ist absurd. Niemand weiß, wohin das führt.

Zu Recht empfehlen die KV Hessen und die KBV ihren Mitgliedern: Wartet ab! Das würde ich auch sagen. Ich unterschreibe doch jetzt noch keinen Vertrag für Geräte, die sich noch nicht mal auf dem Markt befinden. Der Einführungszeitraum für das Versichertenstammdaten-Management ist auch gerade wieder auf Ende 2018 verlängert worden. Es gibt also keinen Grund zur Eile und keinen sachlichen Grund dafür, dass die Kassen ihre Verwaltungstätigkeit in unsere Praxen verlagern.

Kommentar

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